Sonntag, 18. April 2010

Mut zur Provokation

Unter diesem Titel lese ich gerade einen Artikel in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins OT. „…ein attraktives Schaufenster [eines Orthopädiefachgeschäftes] darf auch provozieren, zum Beispiel einen beinamputierten Sportler zeigen…“ heisst es da. Was im ersten Moment schockiert, erweist sich beim Nachdenken als harmlos. Auch die Pro Infirmis zeigte in seiner Plakatcampagne 2001-2008 mit ungewohnten und aufrüttelnden Bildern die Situation behinderter Menschen. Die Bilder sollten in den Köpfen der Öffentlichkeit ein neues, gewandeltes Verständnis von selbständigen und eigenverantwortlichen Menschen mit einer Behinderung verankern.

Früher hatte man behinderte Familienmitglieder oft versteckt, heute gehören sie zum Alltag und sind Teil der Gesellschaft. Aus der Optik der Gehbehinderung führt mich der Gedanke weiter zu der Feststellung, dass ein körperlicher Funktionsverlust dort, wo die moderne Chirurgie kein Operationsverfahren dagegen hat und ihn restlos aufheben kann, nicht unsichtbar gemacht werden kann. Natürlich möchte man eine Behinderung möglichst verdecken, das ist menschlich und legitim. An dem Punkt, wo der Wunsch einer optisch annehmbaren Versorgung steht, beginnt die Kosmetik (altgr. kosmetikós „schmücken“, hier: Verdecken durch Kaschierung) und Ästhetik (altgr. aísthesis „Wahrnehmung“, hier: Anstreben natürlicher Formen).

Wenden wir uns dem orthopädischen Mass-Schuh zu: Vor allem die Ästhetik betrachte ich als den wichtigen Teil um Akzeptanz zu schaffen. Gelingt eine gute Ästhetik und naturnahes Design, hilft es dem Träger des Mass-Schuhes, sein Handicap anzunehmen und sich damit zu identifizieren. Mit guter Ästhetik ist nicht gemeint, dass man die Formabweichung nicht mehr sieht, sondern dass sie natürlichen Mustern und Proportionen folgt, die im Gehirn des Betrachters eine Verbindung zu bekannten Mustern herstellt. Dagegen wirkt eine unnatürliche Form eines Hilfsmittels wie ein Verstärker des Gefühls, absonderlich und ausgefallen zu sein, sie verstärkt das Gefühl von Behinderung. Das Gehirn eines Betrachters kann die Erscheinung nicht sofort zuordnen und produziert ein X-file, erkennt einen Defekt.

So gesehen hilft auch Good-design, sich nicht behindern zu lassen. Daran ist nichts mehr provokativ, oder?

Bald mehr zu diesem Thema.
Ihr Patrick Winkler

Quelle: Orthopädie-Technik 4/2010, S. 234 (Verlag OT, Dortmund)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen